Freitag, 23. Februar 2007
Klimawandel
Der Mann am Frühstückstisch positioniert die Tageszeitung oberhalb seines Frühstückgedeckes auf dem Küchentisch, als gäbe es eine unsichtbare Linie, die Frühstück und das Papier streng voneinander trennt, überfliegt die Schlagzeile auf dem Titelblatt, registriert den Inhalt ohne sich eine Reaktion zu erlauben und schiebt sein Interesse auf, bis der Kaffee durchgelaufen ist. Es fordert ihm keinerlei Disziplin ab, denn es beherrscht ihn das Bedürfnis nach Sorgfalt, Ordnung und Routine.
Die Zeitung wird ausnahmslos erst dann angerührt, wenn alles so ist, wie es sein soll: Kaffee in der Tasse, Bett gemacht, rasiert und all die Ordnung und Sorgfalt nur für ihn allein. Es gibt niemanden, der dies von ihm verlangen gar erwarten würde, der ihn rügt, wenn er nachlässig wäre. Es hat auch nie so einen Menschen gegeben, nicht in seiner Kindheit und danach schon gar nicht. Er selber war es doch, der schon
immer mehr erwartete, der es mehr brauchte, mehr würdigte und mehr verstand, dass alles nach einem Plan ablaufe. Mit vielen Frauen hatte er den Frühstückstisch geteilt, sie haben verweilt bis es nicht mehr ging und so war es häufig, dass es nicht mehr ging – also kein Ring.
Natascha, die letzte Frau an seinem Frühstückstisch, war schön, hörte ihm zu, doch sie verstand ihn dennoch nicht. Die schöne Natascha war Eine Ungeordnete, Eine von naiver, kindlicher Natur, Eine von Anarchie bedrohte und zum Zerfall verdammte, schöne Frau. Sie nistete sich ein an seinem Frühstückstisch, auf dem alles außer Kontrolle geriet, ebenso wie in seinem Herzen. Sie sorgte für Unordnung, in dem sie sich seinen Plänen entzog, sich seinen Ritualen nicht zuwandte und alles immer wieder damit begründete, dass sie den Tag, den Moment leben wolle, als wäre sie ein Kind, das nicht an morgen denkt. Auch im Bett streute sie ihre grenzenlose Unnachgiebigkeit, verwandelte sich in unbegrenzbare Energie, die sich bedrohlich über seine Vorstellung von Abläufen der Vereinigung hermachte. Es war nicht mehr hinzunehmen und als er merkte, dass er ihr nicht helfen konnte, ihr keine Struktur geben konnte, ließ er von ihr ab. Es fiel ihm schwer sich einzugestehen, dass er die schöne Natascha hin und wieder vermisste, sich nach ihrem Anblick sehnte und er erinnerte sich daran, wie sie eines morgens vor dem Spiegel stand und mit großer Sorgfalt ihre wilde Lockenmähne zu einem geordneten Mozartzopf flocht. Doch er hatte richtig entschieden, denn sie hätte seine Pläne durchkreuzt.
Das Geräusch der Kaffeemaschine, kündigte den Startschuss für die morgendliche Zeremonie an und er eilte in die Küche, goss den Kaffee in die Tasse und setzte sich an den Tisch. Er verteilte den Schmierkäse gleichmäßig auf die Vollkornbrotschnitte, nippte am Kaffee und erst jetzt kehrte er zurück zum Titelblatt der Tageszeitung.
KLIMAWANDEL. Forscher: Es bleiben uns nur noch 13 Jahre, um den Kollaps der Erde zu verhindern.
Der Mann umklammerte die heiße Kaffeetasse und starrte aus dem Küchenfenster. Sein Herzschlag, seine Atmung ruhig, durchzog ihn innerlich eine wohltuende, eine fast beruhigende, angenehme Wärme und Zuversicht. Es fühlte sich an, als hätte sich eines seiner letzten Rätsel aufgelöst, als wäre eine tiefe Verunsicherung mit dieser Nachricht für immer besiegt. Jetzt hatte er Gewissheit, nun war der Tag gekommen, an dem es eine zeitliche Begrenzung, eine Ordnung für sein Dasein auf der Erde gab.
Erst jetzt konnte er seinen Plan vollenden, ohne das irgendetwas offen blieb. Es würde nichts mehr geben, was nicht nach Plan liefe, selbst der Tod – er war terminiert. Das Ende würde nicht einfach passieren, wie ein Blitz einschlagen, sondern es würde von nun an nach Plan verlaufen. Der Mann lehnte sich beruhigt zurück und griff nach dem Brief, den er mit der Zeitung erhalten hatte. Mit einem Brieföffner, öffnete er sorgfältig, den Umschlag ohne ihn unnütz zu beschädigen.
Er holte eine Karte aus dem Umschlag, auf der geschrieben stand: Natascha starb plötzlich und unerwartet an den Folgen eines Verkehrsunfalls.

...das fiel mir heute zum Titelblatt in der Hamburger Morgenpost ein

... comment